Aktuelle Rechtsprechungen Invalidenversicherung
Leiturteil: Urteil vom 28. Februar 2025 (9C_443/2023)
Auszug aus den Erwägungen:
3.2. Die beschwerdeführende IV-Stelle rügt, es sei bundesrechtswidrig, bis zum Abschluss der für eine Besserung des Gesundheitszustands vorausgesetzten adäquaten Therapie davon auszugehen, es bestehe eine 50-prozentige Arbeitsunfähigkeit. Die Arbeitsfähigkeit sei bei grundsätzlich allen psychischen Erkrankungen in einem strukturierten Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 zu beurteilen (BGE 143 V 418). Dies sei nicht allein Sache der Medizin; die ärztliche Einschätzung unterliege einer freien juristischen Beurteilung. Die gutachterliche Würdigung beruhe hier aber nicht auf den einschlägigen normativen Vorgaben. Die Vorinstanz habe auch nicht (selbst) geprüft, ob die aufgrund der psychischen Leiden attestierte Arbeitsunfähigkeit (von 50 Prozent bis zum Abschluss von medizinischen und beruflichen Massnahmen) den betreffenden Vorgaben standhalte. Deswegen habe sie auch keine rentenbegründende Erwerbsunfähigkeit annehmen dürfen.
5.2.1. Zwar sind nach Einschätzung der Gutachter sowohl die Depression als auch das (allfällige) ADHS medikamentös und psychotherapeutisch gut behandelbar. Dennoch gilt es, ein Bündel von ineinandergreifenden, planungsbedürftigen therapeutischen Vorkehrungen umzusetzen: So geht aus dem Gerichtsgutachten hervor, dass die bisherige antidepressive Medikation Fragen aufwirft und im Rahmen - allenfalls stationärer - psychiatrischer Interventionen zu regeln ist. Hinsichtlich der Sucht empfehlen die Sachverständigen eine regelmässige ambulante integrierte psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung zur Aufrechterhaltung des Abstinenzverhaltens. Die agoraphobische Angstproblematik vor allem beim Benutzen des öffentlichen Verkehrs sei mittels kognitiver Verhaltenstherapie anzugehen. Voraussetzung für ein mittel- bis langfristig stabiles Funktionsniveau seien "insbesondere die Verbesserung der Compliance mit Aufbau einer ausreichenden Kontinuität der Einnahme der Psychopharmaka (ggf. kontrollierte Abgabe durch eine Spitex) im Rahmen einer engmaschigen integrierten psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung mit dem Ziel der leitliniengerechten Behandlung der Depression und Agoraphobie sowie Beibehaltung der THC-Abstinenz und Stabilisierung der kontrollierten teilremittierten Spielsucht" (Gutachten S. 31). Das Therapiekonzept muss auch auf nichtmedizinische Vorkehrungen abgestimmt sein: Nach Einschätzung der Sachverständigen kann das individuelle Leistungsvermögen "durch Verbesserung der Aussenstruktur (ggf. Internatsanbindung während einer Ausbildung, begleitetes Wohnen, Psychiatrie-Spitex, freiwillige Beistandschaft) mit dem Ziel der Optimierung der Tagesstruktur und damit Verbesserung der Tag-/Nachtumkehr sowie Aufnahme einer regelmässigen Tätigkeit [...] gefördert werden" (Gutachten S. 30 f.). Das chronifizierte Problem der Tag-/Nachtumkehr sei mit Vorteil anfänglich unter stationären Bedingungen anzugehen.
5.2.2. Dieses Behandlungskonzept fällt nicht mehr unter die rentenausschliessende Selbsteingliederungspflicht der versicherten Person. Das Bundesgericht kommt zur folgenden Schlussfolgerung: «Der Beschwerdegegner hat es nicht selber in der Hand, mittels einfacher, selbstverantwortlicher Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung vollständig arbeitsfähig zu werden. Die Folgen der Gesundheitsbeeinträchtigungen sind auch aus objektiver Sicht nicht im Sinn von Art. 7 Abs. 2 zweiter Satz ATSG überwindbar. Insoweit ist die Vorinstanz zu Recht von einem vorläufigen Rentenanspruch des Beschwerdegegners ausgegangen. Dieser dauert bis zu einer allfälligen Revision (Art. 17 Abs. 1 ATSG) nach Abschluss der im Gutachten umschriebenen therapeutischen Massnahmen, hinsichtlich derer ein Mahn- und Bedenkzeitverfahren durchzuführen ist (...)».
Urteil vom 22. Oktober 2024 (8C_104/2024)
Medienmitteilung zum Urteil vom 22. Oktober 2024 (8C_104/2024)Leistungen der Invalidenversicherung bei Adipositas: Anpassung der Rechtsprechung
«Das Bundesgericht passt seine Rechtsprechung zum Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung bei einer Adipositas an. Die grundsätzliche Behandelbarkeit der Adipositas steht demnach einem Anspruch auf eine Rente nicht mehr von vornherein entgegen. Von betroffenen Personen darf allerdings verlangt werden, dass sie zumutbare Behandlungen zur Behebung der Beeinträchtigung durchführen, wie etwa eine diätische Therapie oder ein Bewegungsprogramm.»
Urteil vom 26. Februar 2024 (8C_122/2023)
Medienmitteilung zum Urteil vom 26. Februar 2024 (8C_122/2023) Strenge Anforderungen an Beweiswert von IV-gutachten der PMEDA
«Das Bundesgericht hat am 26.02.2024 ein Leiturteil zur Gutachterstelle PEMEDA publiziert, welches in der Praxis hohe Relevanz zeigen wird.»
Aktuelle unterinstanzliche Entscheide/Urteile zur Thematik Begutachtung "Tonaufnahme in der Invalidenversicherung"
Das Bundesverwaltungsgericht befand im Verfahren C-1545_2020 vom 29. Januar 2021 (Urteil), dass der Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren keinen Rechtsanspruch auf Erstellung einer Tonaufnahme im Rahmen der Begutachtung habe. Es sei vorliegend keine positive Vorwirkung des von der Bundesversammlung verabschiedeten, noch nicht in Kraft gesetzten Art. 44 Abs. 5 bis ATSG zulässig.
Nachfolgend gelangte der Beschwerdeführer an das Bundesgericht gegen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts. Das Bundesgericht ist in BGE 8C_218/2021 (Anhang) auf die Beschwerde nicht eingetreten.
Anmerkung: Mit Inkraftsetzung per 1.1.2022 treten die Bestimmungen des ATSG Art. 44 Abs. 6 mit folgendem Wortlaut in Kraft:
"Sofern die versicherte Person es nicht anders bestimmt, werden die Interviews in Form von Tonbandaufnahmen zwischen der versicherten Person und dem Sachverständigen erstellt und in die Akten des Versicherungsträgers aufgenommen".
Ergänzend werden die Verordnungsbestimmungen per 1.1.2022 in Kraft treten, welche unter anderem Art. 44 Abs. 6 ATSG ergänzend auslegen.
Erst ab 1.1.2022 treten die Bestimmungen zu den Tonbandaufnahmen für Gutachter in Kraft. Die SIM wird Sie laufend über die wesentliche inhaltlichen Vorgaben informieren.
Entscheide des Versicherungsgerichts St. Gallen vom 17. April, IV 2023/174
Entscheide des Versicherungsgerichts St. Gallen vom 31. Januar 2023, IV 2022/102
Urteil des Verwaltungsgericht Zug vom 04. Juli 2022 (S 2021 140)
Aktuelles Leiturteil: Abgrenzung Recht und Medizin
BGE 148 V 49 (8C_280/2021 vom 17. November 2021) siehe: Jörg Jeger
Jörg Jeger, BGE 148 V 49: Ist das Bundesgericht rückfällig geworden? in: Jusletter 10. Oktober 2022
Anforderungen an den medizinischen Gutachter
Das Bundesgericht präzisiert einmal mehr die Anforderungen an die medizinischen Gutachter
BGE 146 V 9
Art. 44 ATSG; Delegation von Aufgaben und Mitwirkungsrecht der versicherten Person im Rahmen der medizinischen Begutachtung.
BGE 9C_525/2020 vom 29. April 2021
Das Bundesgericht äussert sich im vorliegenden Urteil zu den Anforderungen an die fachliche Qualifikation an einen medizinischen Gutachter:
BGE 8C_767 2019 vom 19. Mai 2019
Grundsatzurteile zur Begutachtung in der Invalidenversicherung
BGE 137 V 210
Regeste a
Art. 29 Abs. 1 und 2, Art. 30 Abs. 1 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG; Art. 59 Abs. 3 IVG; Art. 72bis IVV (in Kraft bis 31. März 2011); Einholung von Administrativ- und Gerichtsgutachten bei Medizinischen Abklärungsstellen (MEDAS); Wahrung eines fairen Verwaltungs- und Beschwerdeverfahrens.
Regeste b
Grundlagen (E. 1). Verfassungs- und konventionsrechtliche Einwendungen gegen Begutachtungen durch die MEDAS (E. 1.1). Rechts-, insbesondere tarifvertragliche Grundlagen der MEDAS-Begutachtungen (E. 1.2.1 und 1.2.2). Ergebnisse der Instruktion (E. 1.2.3-1.2.5). Unabhängigkeit der MEDAS nach geltender Rechtsprechung (E. 1.3) im Lichte der Praxis der Konventionsorgane (E. 1.4).
BGE 145 V 2
Medienmitteilung zum Urteil BGE 8C_163/2018 vom 28. Januar 2019
Regeste
Art. 7 Abs. 2 lit. e in Verbindung mit Art. 8a Abs. 1 und 2 IVG; Wiedereingliederung von Rentenbezügerinnen und Rentenbezügern.
Eine rentenbeziehende Person mit Eingliederungsressourcen hat - unabhängig davon, ob ein Revisionsgrund im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG vorliegt - nicht nur einen Anspruch, sondern auch eine Pflicht, an zumutbaren Wiedereingliederungsmassnahmen teilzunehmen (E. 4.3.1). Dabei bildet die subjektive Eingliederungsfähigkeit der rentenbeziehenden Person keine Voraussetzung für die Durchführung solcher Massnahmen (E. 4.3.3).
Rechtsprechung zu psychischen Erkrankungen und die Indikatorenrechtsprechung
BGE 130 V 352
Regeste
Art. 4 und 28 Abs. 2 IVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung): Somatoforme Schmerzstörungen und Invaliditätsbegriff.
Eine diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung allein vermag in der Regel keine lang dauernde, zu einer Invalidität führende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG zu bewirken. Umschreibung der Voraussetzungen, unter welchen ein Abweichen von diesem Grundsatz ausnahmsweise in Betracht fällt (Erw. 2.2.3; Präzisierung der Rechtsprechung).
BGE 136 V 279
Regeste
Art. 4 Abs. 1 IVG; Art. 7 und 8 Abs. 1 ATSG. Ob eine spezifische und unfalladäquate HWS-Verletzung (Schleudertrauma) ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle invalidisierend wirkt, beurteilt sich sinngemäss nach der Rechtsprechung zu den anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen (BGE 130 V 352; E. 3).
BGE 141 V 281: Leading Case
Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 6-8 ATSG (insbesondere Art. 7 Abs. 2 ATSG); psychosomatische Leiden und rentenbegründende Invalidität.
Feststellung der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung: Bedeutung der diagnostischen Voraussetzungen, auch für die Einschätzung der funktionellen Auswirkungen (E. 2.1). Tragweite der Ausschlussgründe nach BGE 131 V 49 E. 1.2 S. 51 (E. 2.2).
Beurteilung der Arbeits(un)fähigkeit (E. 3-5): Aufgabe der Überwindbarkeitsvermutung (Änderung der Rechtsprechung; E. 3.4 und 3.5). Das bisherige Regel/Ausnahme-Modell wird durch einen strukturierten normativen Prüfungsraster ersetzt (E. 3.6). Unveränderte Geltung der Grundsätze betreffend die Zumutbarkeit; Betonung der Konzepte der indirekten Beweisführung sowie der objektivierten Betrachtungsweise bei materieller Beweislast der rentenansprechenden Person (E. 3.7).
Anpassung des Beurteilungsrasters, Rechtsnatur und Systematik des Indikatorenkatalogs; Erweiterung der Indikatoren im Hinblick auf die Erfassung von Ressourcen (E. 4.1). Anwendungsgebiet (E. 4.2). Auf den funktionellen Schweregrad bezogene Indikatoren (Änderung der Rechtsprechung betreffend die Elemente primärer Krankheitsgewinn und Komorbidität; E. 4.3). Auf die Konsistenz der funktionellen Beeinträchtigungen bezogene Indikatoren (E. 4.4).
Zuständigkeiten von Recht und Medizin: rechtliches Anforderungsprofil auf medizinischer Grundlage; erforderliche Umsetzung in medizinische Leitlinien (E. 5.1). Zusammenwirken bei der konkreten Invaliditätsbemessung (E. 5.2).
BGE 143 V 409
Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 6-8 ATSG (insb. Art. 7 Abs. 2 ATSG); Art. 28 Abs. 1 IVG; depressive Störungen leicht- bis mittelgradiger Natur und rentenbegründende Invalidität.
BGE 143 V 418
Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 6-8 ATSG (insb. Art. 7 Abs. 2 ATSG); Art. 28 Abs. 1 IVG; Invalidität bei psychischen Leiden.
BGE 144 V 50
Anwendungsbeispiel für die Indikatorenprüfung nach BGE 141 V 281 auf der Grundlage eines Gutachtens, das bereits nach den Vorgaben von BGE 141 V 281 erstellt wurde (E. 3-6).
BGE 145 V 215
Medienmitteilung zum Urteil vom 11. Juli 2019 (9C_724/2018) «Leistungen der Invalidenversicherung bei Suchterkrankung, Änderung der Rechtsprechung»
Invalidenversicherungsrechtliche Relevanz von Abhängigkeitssyndromen (psychische Störungen durch psychotrope Substanzen). Primäre Abhängigkeitssyndrome sind - wie sämtliche psychischen Erkrankungen - grundsätzlich einem strukturierten Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 zu unterziehen.
BGE 145 V 361
Abgrenzung im Lichte von BGE 141 V 281 zwischen der (freien) Überprüfung der medizinisch-psychiatrischen Annahme einer Arbeitsunfähigkeit durch die rechtsanwendenden Stellen einerseits und unzulässiger juristischer Parallelbeurteilung andererseits (E. 4.3)
Auszug aus den Erwägungen:
- Ärztlicherseits ist also supstanziiert darzulegen, aus welchen medizinisch-psychiatrischen Gründen die erhobenen Befunde das funktionelle Leistungsvermögen und die psychischen Ressourcen in qualitativer, quantitativer und zeitlicher Hinsicht zu schmälern vermögen (BGE 143 V 418 E. 6 S. 427)
- Kommen die Experten dieser Aufgabe unter Berücksichtigungen der durch BGE 141 V 281 normierten Beweisthemen überzeugend nach, wir die medizinisch-psychiatrische Folgenabschätzung auch aus der juristischen Sich des Rechtsanwenders - Durchführungsstelle oder Gericht - Bestand haben. Andernfalls liegt ein triftiger Grund vor, der rechtlich ein Abweichen davon gebietet (vgl. zum Ganzen: BGE 245 V 361 E. 4.3)
Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit
BGE 140 V 193
Regeste
Art. 6 ATSG; Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit. Aufgabenteilung von rechtsanwendender Stelle und begutachtender Arztperson bei der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit als Grundlage für den Anspruch auf Invalidenrente (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 3.1 und 3.2). Anwendungsfall (E. 3.3).
Mitwirkung Dritter bei der Begutachtung im sozialversicherungsrechtlichen Verfahren
BGE 132 V 443
Anders als bei einer Verhandlung - allenfalls mit Beweisabnahme - vor einer Verwaltungs- oder Rechtsmittelbehörde besteht kein Anspruch auf eine anwaltliche Verbeiständung anlässlich einer medizinischen Begutachtung.
BGE 140 V 260
Der Beizug Angehöriger zur Übersetzung des psychiatrischen Untersuchungsgesprächs ist prinzipiell ausgeschlossen. Beweisrechtliche Tragweite dieses Grundsatzes (E. 3.2 und 3.3). Anwendung auf den Einzelfall (E. 3.4).